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Es ist ein alter Hut – das Gerede von der Nächstenliebe an Weihnachten. Und vergebens obendrein, bedenkt man, welchen Ruf die Weihnachtszeit hierzulande genießt: erzwungener Frieden und anschließend vorprogrammierter Familienzoff. Die „stade Zeit“ (die ruhige, besinnliche Zeit), wie es in Bayern so schön heißt, steht vor der Tür. Und im Lichte dessen könnte für einige in Anbetracht der kommenden Tage nichts wahrer sein als der berühmte Ausspruch des Münchner Humoristen Karl Valentin: „Wenn die stade Zeit vorbei ist, dann wird’s auch wieder ruhiger.“

Dabei ist die Zeit um Weihnachten DIE Gelegenheit zur Reflexion – über das vergangene Jahr, den Platz, den man momentan im eigenen Leben einnimmt – und vor allem eine Möglichkeit, aufmerksam und liebevoll auf seine Mitmenschen zuzugehen – wie übrigens schon im Christentum ursprünglich verankert. Bei dieser Gelegenheit können wir hinterfragen, mit welchen Überzeugungen wir anderen tagtäglich begegnen.

Wie funktioniert das? Wenn andere so merkwürdig sein können? Vor allem in dieser Zeit, in der die Begriffe Flüchtlinge und Flüchtlingskrise in aller Munde und damit Missverständnisse aller Art und permanentes Herumeiern um die „richtige“ Kommunikation mit dem Anderen an der Tagesordnung sind? Ähnlich im alltäglichen Miteinander, zum Beispiel im Familienkreis, wo wir oft auf Andersartigkeit stoßen, die schnell in Ablehnung münden kann.

Hier hilft eine Erkenntnis immens: Wir alle kommunizieren aus kulturell und sozial geprägten, antrainierten Überzeugungen heraus.

Das bedeutet, wir sind, werden wir uns dessen nicht bewusst, Gefangene unserer eigenen Stereotype. Wir teilen Erfahrungen automatisch in Schubladen ein. Wir haben unser Verständnis von Zeit, unser Verständnis von räumlicher Distanz in zwischenmenschlicher Kommunikation, unsere Betonung, Lautstärke und Geschwindigkeit der Sprache, unsere Gestik, unsere Erziehung, unsere moralischen Grundsätze. Und alles, das nicht in eine unserer Schubladen passt, wird beäugt. Wie es beäugt wird – nun, das haben wir selbst in der Hand. Vor allem haben wir in der Hand, wie wir mit „Fremdem“ umgehen, sei es im Alltag oder bei der Begegnung mit anderen Kulturen.

Ein praktisches Beispiel: Das Verständnis von Zeit

Vorweg: In Deutschland ist man generell der Überzeugung, Zeit laufe ab, man müsse sie einteilen, geradezu beschützen. Wenn Zeit weg ist, gilt sie oft als „verloren“. Dieses Umgehen mit Zeit wird als monochrones Zeitverständnis bezeichnet.
Zu unserem Beispiel: Eine Reisegruppe deutscher, äußerst effizienter und pünktlicher Ingenieure (um das Klischee auch richtig zu bedienen) macht Urlaub. Sagen wir mal – in Indien. Ein Land, in dem es sich mit dem Zeitverständnis nun etwas anders verhält. Hier wird Zeit in weiten Bereichen als ein Gut angesehen, das immer wiederkehrt, da sich Zeit jeden Tag wiederholt. Dinge werden nicht nacheinander, sondern oft gleichzeitig erledigt und sind fertig, wenn sie fertig sind. Dieses Empfinden von Zeit bezeichnet man als polychrones Zeitverständnis.

Unsere Reisegruppe hat, in Indien irgendwo im Nirgendwo, mit dem Jeep eine Panne und findet tatsächlich in der Nähe eine Autowerkstatt. Der indische Mechaniker sichert fröhlich zu: „Yes, of course we can fix it. No problem. Everything we need we have here.“ Was er meint ist: Er wird den Jeep reparieren – wann er es eben tut. Nicht, dass er es sogleich tun wird. Die deutsche Gruppe jedoch versteht die Aussage „deutsch“, ist erleichtert und wartet. Stunden vergehen, es wird Abend. Die Stimmung in der Gruppe wird angespannt. „Warum“, sagt eine der Ingenieurinnen wütend, „ist das noch nicht repariert?“ Es hieß doch: Alles kein Problem, wird erledigt. „Tja“, erwidert einer ihrer Kollegen, „die haben’s halt nicht so mit der Zuverlässigkeit hier.“ Vorurteil: vermeintlich bestätigt.

An dieser Stelle kommt nun das Bewusstsein um das eigene Verständnis von Zeit ins Spiel. Wenn ich mir – in der Position der Ingenieurin und ihres Kollegen – der Tatsache bewusst bin, dass mein Verständnis von Zeit nicht allgemeingültig, sondern Produkt meiner Sozialisation ist, dann öffne ich mich gleichzeitig der Möglichkeit, dass ein anderes Verständnis von Zeit genauso wahr sein kann. Und die verzögerte Reparatur nichts mit Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit oder ähnlichen Interpretationen zu tun hat.

Lernen, neue Möglichkeiten in Betracht zu ziehen

Genauso verhält es sich mit all unseren Schablonen, mit denen wir unsere Umgebung wahrnehmen. In Begegnung mit anderen Kulturen, aber auch innerhalb unseres gewohnten Dunstkreises. In dem Moment, in dem wir die Möglichkeit zulassen, dass das Gegenüber eine eigene, für sie oder ihn ebenso reale Wahrheit empfindet, können wir beginnen, auf völlig neue Weise zu kommunizieren.

Das ist anstrengend. Bequemer ist, das Eigene als das Wahre hinzunehmen, mit dem Finger auf das Andere zu zeigen und zu rufen: „Falsch!“, „Böse!“, „Mist!“.
Aber: sich darauf einzulassen ist unendlich bereichernd. Wir erreichen tiefgehende, ehrliche und sich gegenseitig nährende zwischenmenschliche Beziehungen nur, wenn wir bereit sind, Energie zu investieren. Wenn wir uns auf Andersartigkeit einlassen WOLLEN und verstehen, dass nachhaltiges Verständnis füreinander nur so funktioniert. Das gilt für den privaten, aber ebenso für den geschäftlichen Kontext.

Und vielleicht, ja nur vielleicht, wird mit diesem Blick das diesjährige Weihnachten im Familienkreis tatsächlich das, was es gerne sein möchte: ein Fest der Liebe und Dankbarkeit für die Vielfalt und die Chancen, die uns das Leben bringt.

Eva Zebisch

Seit Oktober 2018 bin ich Teil von ComTeam.

Meine Leidenschaft für Kommunikation spiegelt sich in meinen vielfältigen Tätigkeiten für ComTeam wider: Einerseits unterstütze ich die Change-Kommunikation in Transformations- und Veränderungsprozessen von ComTeam Beratungskunden. ComTeam-intern leite ich das Marketing und gemeinsam mit einem Kollegen das Nachhaltigkeitsmanagement.

Geboren 1988 in München, aufgewachsen im Münchner Süden, Wurzeln im Chiemgau und oft und gerne mit meinem Hund draußen unterwegs. Meine große Reise-Liebe: Die ganze Welt, vor allem aber Indonesien, mit all seinen erstaunlichen Facetten und wunderbar herzlichen Menschen. Und Italien – das geht immer.

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