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Sechs Monate arbeiten im Homeoffice resultieren in steilen Lernkurven: Wir sind weitaus stärker digitalisiert. Wir navigieren effizient durch den Arbeitsalltag mit Telefonkonferenzen und virtuellen Meetings. Eine Menge enthusiastische Meldungen berichten darüber, wie gut Homeoffice klappt und welche Chancen sich daraus für ArbeitnehmerInnen und Unternehmen in Zukunft eröffnen können.

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ComTeam Coach Peter Kraushaar zeichnet im Interview mit uns ein differenziertes Bild: Wo und wann funktioniert Homeoffice gut? Aber auch: Wann kann das Konzept zum Hindernis oder gar zum persönlichen Alptraum werden? Anhand konkreter Coaching-Beispiele werden die Licht- und Schattenseiten von Homeoffice deutlich – und auch, was Coachees gerade brauchen.
Lieber Peter, man liest von Allianz bis Google, dass Homeoffice „die Zukunft“ ist. Homeoffice wird zeitlich verlängert und für viele Unternehmensbereiche obligatorisch. Hast Du Coachees, die für diese Entscheidung applaudieren?
Einer meiner Coaches ist Projektleiter mit einem Team von 7 MitarbeiterInnen. Er und sein Team arbeiten im Homeoffice und er ist begeistert von der Effizienzsteigerung im Team. Ein Projekt-Softwareprogramm unterstützt die Zusammenarbeit; die virtuellen Meetings sind sehr strukturiert und ergebnisorientiert gestaltet. Alle arbeiten nach individuell festgelegten agilen Prinzipen. Für das Team sind Aufgabenklarheit, Zeitplan sowie die hohe Eigenverantwortung die tragenden Säulen des Erfolgs. Sein Team und er profitieren vom Homeoffice und wollen die Arbeitsweise beibehalten.
Für das Team sind Aufgabenklarheit, Zeitplan sowie die hohe Eigenverantwortung die tragenden Säulen des Erfolgs.
Das hört sich ja schon nach Homeoffice-Profis an. Gibt es auch ein Beispiel, bei dem der Coachee dem Homeoffice anfangs kritisch gegenüberstand und mit der Zeit immer besser damit zurechtkam?
Ja, da gibt es ein Beispiel. Ein Coachee stand mit der Digitalisierung zu Beginn der Homeoffice-Zeit auf Kriegsfuß. Es waren für ihn zu viele virtuelle Meetings, die ihm technisch Probleme bereiteten und gefühlt zu anonym waren. Nach 6 Wochen hatte er es immer besser raus. Im Veränderungsprozess lernte er, mit der Technik Schritt für Schritt besser umzugehen. Außerdem schaffte er es, sich seinen Arbeitstag gut zu strukturieren. Für seine Sozialpflege legte er sich abendliche Telefon-Calls mit KollegenInnen nach getaner Arbeit. Da er eine standardisierte Tätigkeit mit klaren Abläufen hat, konnte er seine Aufgabe nach 3 Monaten schneller und komfortabler von Zuhause aus bearbeiten. Auf Homeoffice will er heute nicht mehr verzichten.
Das macht ja den Eindruck, dass es keine Hürden gibt für Homeoffice? Hast Du ein Beispiel für die Schattenseite des Homeoffice?
Es gibt einen Coachee, der Unternehmen zusammenbringt, oder wie man auf Englisch sagt, „mergt“. Er verzweifelt daran, dass er sich nicht mit seinen Kunden treffen kann. Ihm fehlt die intensive Interaktion mit Kunden zu Problemen, Herausforderungen und Chancen. Besonders schwierig ist es für ihn in virtuellen Konferenzen. Ihm fehlt der notwendige kreative Disput, die Zwischentöne in den Arbeitspausen oder beim Lunch, um schwierige Lösungen nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit Intuition und Vertrauen in die handelnden Personen besprechen und entscheiden zu können. Er sagt, dass seine Arbeit digital nicht mit der notwendigen Vielfalt und dem besten Ergebnis durchgeführt werden kann.
Ich kann mir auch vorstellen, dass es Menschen gibt, die sich im Homeoffice verloren fühlen?
Ja, richtig. Menschen, die beziehungsorientiert agieren, mangelt es an sozialen Kontakten zu KollegInnen. Einer meiner Kunden liebt die unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen der KollegInnen. Der persönliche Austausch ist seine Energie- und Kraftquelle. Er vermisst den Blick- und Körperkontakt. Ihn erschöpfen die virtuellen Meetings. Klar, er sieht wohl alle wie in einer Ahnengalerie, doch niemand schaut sich dabei wirklich an. Es entsteht keine soziale Nähe und Wärme. Für ihn bedeutet Homeoffice menschlichen Rückschritt und persönliche Vereinsamung. Im Rahmen des Coachings kam er auf die Idee, ein Netzwerk aus Gleichgesinnten mit dem Titel „Persönliches Treffen mit Abstand tut gut“ zu gründen. Diese Aktion zeigte ihm und mir, dass er nicht allein mit den Nachteilen des Homeoffice kämpfte. Auch war er einer der ersten, der mit voller Freude ins Büro ging.
Klar, er sieht alle wie in einer Ahnengalerie, doch niemand schaut sich dabei wirklich an. Es entsteht keine soziale Nähe und Wärme.
Als Resümee: Was ist aus Deiner Erfahrung entscheidend, ob Homeoffice gut oder nicht gut geht?
Für den „Homeoffice-Reifegrad“ habe ich 4 Dimensionen definiert. Es sind die Rahmenbedingungen, Aufgaben, Personen und Organisationen. Sie müssen den Homeoffice-Anforderungen entsprechen, damit Homeoffice ein Erfolgsrezept ist.
- Rahmenbedingungen: Haben Beschäftigte neben der technischen und räumlichen Ausstattung auch eine familiäre Situation, die es erlaubt, von Zuhause aus konzentriert zu arbeiten, dann ist Homeoffice grundsätzlich möglich. Muss die Tätigkeit zwischen Esstisch und Kinderbetreuung passieren, wird Homeoffice zum Boomerang und auf Dauer ein großer Stressfaktor.
- Aufgaben: Bekannte, gut strukturierte und standardisierte Aufgaben können im Homeoffice zielführend bearbeitet werden. Bei neuen und kreativen Aufgaben stößt das Homeoffice an seine Grenzen. Hier sind der Austausch und die Teamarbeit im Büro weitaus erfolgreicher.
- Personenabhängige Merkmale: Ein Beschäftigter, der es liebt, autonom und selbstbestimmt zu arbeiten, ist im Homeoffice gut aufgehoben. Ein Beschäftigter, der soziale Beziehungen und Kontakte wie die Luft zum Atmen braucht, um seinen beruflichen Alltag zu meistern, ist schnell Homeoffice-müde.
- Zu guter Letzt: Organisationen, die von einer Projekt-Kultur geprägt sind, stehen für selbstorganisiertes Arbeiten. In einer solchen Kultur gehört Homeoffice schon immer dazu. In Family- und Innovations-Kulturen, wo stark auf Beziehung und persönlichen Austausch gebaut wird, fällt Homeoffice schwerer.
Meine feste Überzeugung ist, dass die Demokratisierung in Unternehmen zunimmt. Hierarchien werden weiter abgebaut und die Mitsprache der MitarbeiterInnen ausgebaut.
Ein Blick in die Zukunft: Wie wird sich Homeoffice etablieren?
Unternehmen dürfen jetzt nicht stehenbleiben und irgendwie weitermachen, wenn es um neue Arbeitsweisen geht. Jetzt braucht es ein klares Bekenntnis der Geschäftsleitung und der Führungskräfte, dass sie nicht in die alte Arbeitswelt zurückkehren werden. Meine feste Überzeugung ist, dass die Demokratisierung in Unternehmen zunimmt. Hierarchien werden weiter abgebaut und die Mitsprache der MitarbeiterInnen ausgebaut. Es wird wechselnde „Leitfiguren“ geben, die Aufgaben mit ihrer Kompetenz und Leidenschaft übernehmen und proaktiv vorantreiben. In Unternehmen wird es letztendlich Mischformen im Rahmen der neuen Arbeitswelt geben.
Hast Du erste Ideen, was es braucht, um die Mischformen der neuen Arbeitswelt zu formen?
Die Erfolgsrezepte der Vergangenheit taugen nicht für die Gestaltung der Zukunft. Es reicht jetzt nicht aus, neue Konzepte, Tools oder Methoden zu kaufen und zu besitzen. Nur mit einem neuen Mindset entsteht ein neues Sein. Für Business und Führung braucht es also eine neue Betriebsanleitung. Aus meiner Überzeugung wird dieses neue Mindset von zwei Faktoren gespeist: von resilienten Führungskräften und Beschäftigten sowie von Organisationen, die sich an den Prinzipien der agilen Organisation orientieren.
Interessanter Artikel, dem ich an vielen Stellen nur zustimmen kann.
Besonders gefallen haben mir die vier Dimensionen aus denen man bestimmt ein Analysetool oder ein Vereinfachungsmodell entwickeln kann.