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Mein Bruder hat zum Geburtstag einen Grill bekommen – diese angesagte Marke aus den USA mit dem perfekten Marketing. Sogar ein Grillseminar bekam er dazu und mit einem ironischen Grinsen, aber auch nicht so ganz ohne Stolz – vermute ich – verschickte er danach ein Selfie mit der Teilnahmeurkunde. Aber wissen Sie, was er mittlerweile drauflegt, wenn er im tiefsten Franken seinen Geburtstag feiert? Halal Grillwurst vom türkischen Supermarkt (Fleisch für die Wurst ist nach islamischen Regeln erzeugt worden: Tiere geschächtet, kein Schweinefleisch)! Meine Nichten feiern Kindergeburtstag und es gibt keine Gummibärchen mehr (enthalten Gelatine), und wenn sie losgehen wollen, sagen sie „Yalla“.
Richtig geraten – in ihrem Freundeskreis sind neuerdings Muslime. Genauer gesagt Flüchtlinge, die in der Kleinstadt leben und in den Alltag seiner Familie integriert sind. Die Veränderung hat auch dort Einzug gehalten. Ob wir wollen oder nicht – es ist, wie es ist. Und Change-Management ist angesagt.
Für meine Schwägerin hat diese Veränderung sogar eine berufliche Kehrtwende gebracht: Aus ihrem ehrenamtlichen Engagement ist eine feste Anstellung bei der Stadt geworden. Sie koordiniert erfolgreich und engagiert ehrenamtliche Helferkreise.
In meinem Freundeskreis sieht das anders aus: keine bekennenden Muslime, keine Flüchtlinge. Eine Unterkunft in der Nachbarschaft, mehr nicht. Und doch seit über einem Jahr immer wieder die Frage: Wie stehe ich dazu? Wie kann ich mich einbringen? Was passt zu mir? Wie gehe ich mit meinen Vorurteilen um, mit meinen Ängsten? Welchen Beitrag leiste ich zur Integration?
Und ich habe nach Maßnahmen gesucht: Das Welcome-Dinner fand ich klasse, spenden wollte ich, mit Kindern in Heimen etwas aufziehen, aber dazu kam es bislang nie – irgendwie schien es für mich nicht das Richtige zu sein.
Eine Freundin sagte mir: Das Mindeste, was Du tun kannst, ist eine innere Offenheit zu leben. Das habe ich versucht und darauf vertraut, dass eine Chance kommt, mich auf eine zu mir passende Art und Weise zu engagieren. Ohne schlechtes Gewissen, sondern mit Vertrauen ins Leben.
Und plötzlich sind in der Schule meiner Tochter nun auch Flüchtlinge. Sie brauchen Unterstützung im Deutsch-Unterricht, müssen das 1×1 lernen, kennen vieles nicht, was für die anderen Kinder selbstverständlich ist. Wir starten diese Woche. Vielleicht ist das mein Weg?
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Nachtrag: Seit Oktober unterstütze ich 3 syrische Mädchen in Mathematik. Jede Woche freue ich mich auf den Unterricht… Wir haben so viel Spaß zusammen, sie saugen alles auf, wollen lernen und sind so dankbar! Ich kann ehrlich sagen, dass diese gemeinsame Zeit mich zutiefst erfüllt – auf eine bislang unbekannte Art und Weise.
Heute habe ich erfahren, dass die Familien übermorgen in ein anderes Heim kommen – außerhalb der Stadt. Die Mädchen werden auf andere Schulen kommen. Momentan bin ich traurig über den Abschied – und weiß gleichzeitig, dass dieser Weg der richtige für mich ist..
Du bist offensichtlich ein Mensch, der mit dem Herzen schaut. Du kannst abwägen und das Beste für Dich (und Dein Gewissen) heraussuchen. So wie Du es machst kann Integration gelingen. Ich wünsche Dir Freude an jener Arbeit, die Du beginnen mögest. Uta
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Wunderschöner Text, Kerstin!
-udo-