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Ökolopoly(r)

Ökolopoly (von Ravensburger), Quelle: Amazon

„Schon wieder ein Land versenkt!“ Was haben wir getüftelt und studiert, um endlich einmal einen kriselnden Staat wieder auf Vordermann zu bringen. Doch „Ökolopoly“, Frederic Vesters Lernspiel zum Verstehen von Zusammenhängen in komplexen Entscheidungssituationen, hat uns Demut gelehrt. Und mit der Zeit bekamen wir „ein Gespür“ für die Zusammenhänge und erzielten Mal um Mal bessere Ergebnisse – am Ende der achtziger Jahre.

Doch „Spüren“ allein reicht nicht, wenn man es mit komplexen Projekten, etwa zur Strategieentwicklung, zu tun hat. Dazu brauchte es Methoden, die nachvollziehbar und ergebnissicher funktionierten, und die für normal begabte Menschen auch nachvollziehbar waren. Das mit dem Funktionieren haben uns Vester und zwei prominente Vertreter der Hochschule St. Gallen beigebracht: Wir lernten, im Projektkontext zu vernetzen, und entwickelten die Methode dann so weiter, dass sie zu unserer Art der Projektsteuerung zu taugen begann. „Vernetztes Denken“ ist auch heute noch ein anspruchsvolles Herangehen an komplexe Problemlagen, für das nicht jeder die nötige Ambiguitätstoleranz und die nötige Geduld aufzubringen vermag – leider oft um den Preis nachhaltiger Lösungen.

Dietrich Dörner hat in „Die Logik des Misslingens“ eindrucksvoll gezeigt, wie unsinnig Menschen reagieren, wenn sie die Komplexität einer Situation – besonders unter Zeitdruck – überfordert. Die St. Gallener Professoren Probst und Gomez fassen die Denkfehler bei Problemlösungsprozessen in etwas so zusammen:

  • Ungenügende Problematisierung: Unkritische Übernahme von Annahmen über eine Situation, sowie unkritische Übernahme von Zielen und Werten
  • Unrealistische Interpretationen: Zu enger Blick auf eine Situation, statisches Denken statt Denken in Wechselwirkungen und Regelkreisen, Übergehen von Nebenwirkungen
  • Hyperaktives Planen und Entscheiden: Mangelnde kreative Suche nach Neuem, schlichtes Ursache-Wirkungs-Denken, Vernachlässigung von Zeitverzögerungen, Ungeduld im Prozess führt zu Schnellschüssen ohne vernünftiges Durchdringen des Problems
  • Stressgetriebenes Verwirklichen: „Machen“ statt „Entwickeln“, Symptombehandlung statt Ursachenbehandlung, Reaktives Handeln bei Störungen.

Die Player und ihre Beiträge

F. Vester

Prof. Dr. Frederic Vester, Quelle: frederic-vester.de

Frederic Vester (1925 – 2003)

Vernetzt

„Die Kunst vernetzt zu Denken“, Quelle: Amazon

Frederic Vester entwickelte mit seiner Studiengruppe für Biologie und Umwelt über viele Stufen das kybernetische Umweltsimulationsspiel Ökolopoly®, das später auch als Software angeboten wurde (ecopolicy®). Das computergestützte „Sensitivitätsmodell Prof.Vester®“ stellte Wirtschaft, Ausbildung und Politik ein ganzheitliches Werkzeug zur Verfügung, um für komplexe Fragestellungen neue und nachhaltige Lösungen auf der Basis eines fundierten Systemverständnisses zu entwickeln. Frederic Vester war ein Vordenker der Umweltbewegung, war Gründungmitglied der BUND und Mitglied im Club of Rome. Er prägte den Begriff „Vernetztes Denkens“, des Denkens in Kreisläufen. All seine Aktivitäten und Veröffentlichungen kreisten um dieses Thema, das für ihn der Angelpunkt für das Überleben der Menschheit war. Er war früh mit Büchern und Fernsehreihen zu Themen wie „Denken – Lernen – Vergessen“ und „Phänomen Stress“ präsent und erklärte auf anschauliche Weise, wie Menschen „funktionieren“, wie sie lernen und wie sie mit Stress klarkommen können – immer mit Blick auf die Vernetzungen, in deren Rahmen Leben sich abspielt.Eine wichtige Erfindung Vesters war sein „Papiercomputer“, mit dessen Hilfe Vernetzungen von Elementen eines Systems relativ übersichtlich und nachvollziehbar visualisiert werden konnten, und eben „Ökolopoly“. Diesem Spiel liegen kybernetische Funktionen zugrunde, die beschreiben, wie z.B. Produktion, Umweltbelastung und Lebensqualität zusammenhängen. So wurden auch Phänomene wie, dass Systeme irgendwann schlagartig „umkippen“ können, abbildbar und nachvollziehbar.Von 2009 bis 2012 wurden mit der Computerversion des Spiels ecopolicy an deutschen Schulen so genannte Ecopolicyaden ausgetragen, in denen Teams bis zum Bundeswettbewerb gegeneinander antraten und ihre kybernetischen Fähigkeiten zeigten. Über 175.000 Schüler und ihre Lehrer haben in den 3 Jahren daran teilgenommen und das Zusammenwirken komplexer Einflüsse bei begrenzten Steuerungsmöglichkeiten erprobt.

Gilbert J.B. Probst (*1950) und Peter Gomez (*1947)

Vernetzt Denken

„Vernetztes Denken, Quelle: Amazon

Gilbert Probst schloss 1977 sein Studium an der Hochschule St. Gallen mit dem Lizenziat ab, promovierte 1981 mit einer Arbeit über Kybernetische Gesetzeshypothesen als Basis für Gestaltungs- und Lenkungsregeln im Management und habilitierte sich 1986 über Selbst-Organisation: Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht. Seit 1987 ist er ordentlicher Professor für Unternehmungsorganisation an der Universität Genf. Peter Gomez studierte ebenfalls an der Universität St. Gallen und war im Rahmen seiner Habilitation zuerst Dozent an der Uni St. Gallen, anschließend als Gastprofessor an der State University of New York tätig. Später wurde er Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Betriebswirtschaft an der Uni St.Gallen. In seiner gemeinsam mit Fredmund Malik und Karl-Heinz Oeller verfassten Dissertation beschäftigte Gomez sich mit „Systemmethodik“ zur Erforschung und Gestaltung komplexer soziotechnischer Systeme. Mit der Methodik des Vernetzen Denkens hat er gemeinsam mit Gilbert Probst ein Instrument zur Analyse und Visualisierung komplexer Problemzusammenhänge entwickelt. Ein wichtiges Element ist dabei, ähnlich wie bei Vester, die Darstellung von verschiedenen Wirkmechanismen in Kreisläufen und Netzwerken. Ihr Buch „Vernetztes Denken – Unternehmen ganzheitlich führen“ aus dem Jahr 1989 ist immer noch ein wichtiges Grundlagenwerk des Systemischen Managements.

ComTeam: Vernetzen als Projekttool

ComTeam:

„Verändern: Changepraxis für Entscheider , Quelle: ComTeamMedia

ComTeam hat die Vernetzungsmethodik früh in die Veränderungsprojektarbeit in Unternehmen aufgenommen, doch mit einem anderen Erkenntnis-Interesse als die Urheber: Wir haben nicht erst auf der Ergebnisebene vernetzt, sondern z.B. bei Strategie-Entwicklungen alle relevanten Themen und Fragen gesammelt, geclustert und dann bereits die strategierelevanten Fragen vernetzt. Wir wollten möglichst früh herausfinden, welche Themen welche Bedeutung für die Entwicklungsarbeit hatten, um danach die Reihenfolge der Themenbearbeitung festlegen zu können. Zusätzlich waren wir ComTeamer von den frühen Aufstellungsmethoden aus dem Psychodrama beeinflusst. Deshalb starten wir eine Vernetzung immer mit so etwas wie einem Soziogramm: Wir bilden zuerst mit den Teilnehmern eine „Gestalt“ des Themas, mit „zentralen“ und „peripheren“ Themen, und vernetzen dann jedes Thema mit jedem anderen. Über den Papiercomputer erstellen wir dann ein Themenportfolio mit den Achsen „Vernetzungsgrad“ und „Beeinflussungsgrad“. Und dann fragen wir uns, was es für eine Organisation bedeutet, mit bestimmten Themen zu arbeiten und fanden die Begriffe „Innovatoren“, „Stabilisatoren“, „Rahmengeber“ und „Indikatoren“, die die „Systemrollen“ eines Themas für eine Organisation beschrieben. Daraus lässt sich dann ableiten, dass man besser mit der Arbeit an Rahmengebern und Innovatoren beginnt, um Doppelarbeit zu vermeiden. Gleichzeitig ist so ein Vernetzungsprozess etwa für eine Projektgruppe eine hervorragende Orientierung, an welchen Themen in welchen Teilprojekten gearbeitet wird, und wen man „im Auge behalten muss“, weil die Themen zusammenhängen. Das macht Richtungskonflikte in der Projektarbeit früh sichtbar und lässt sie bewältigen, noch bevor feste Endergebnisse um ihren Bestand kämpfen müssen.Vernetzen ist also eine elementare Strukturierungshilfe zu Beginn einer komplexen Projektarbeit. Es eignet sich aber auch dafür, Ordnung in die tausend konkurrierenden Projekte in einer Organisation zu bringen und – wenn es eng wird – Prioritäten nach Logik zu setzen, statt nach der Durchsetzungskraft von Projekt-Ownern.

Vernetzungstechnik

Die ComTeam Vernetzungstechnik, Quelle: ComTeam

Im aktuellen ComTeam Change-Buch „Verändern – Changepraxis für Entscheider“ ist die Methode ausführlich beschrieben.

Consideo

CONSIDEO, Quelle: consideo.de

CONSIDEO
Heute gibt es mächtige Softwaretools, mit denen man die klassische Vernetzungsmethodik abbilden kann. Sie sind präziser und aussagekräftiger als der Vestersche Papiercomputer und machen auch möglich, Simulationen zu modellieren. Das aktuellste Tool, das es für PC und Mac ebenso gibt wie browsergestützt und für Tablets stammt von CONSIDEO und wird in diesem MOVIE gut beschrieben.

consideo

iModeler, Quelle: consideo.de


Die Bausteine des ganzheitlichen Denkens

(vereinfacht nach einer Liste von Probst/ Gomez, aus: Vernetztes Denken, Gabler 1989, S.5))

GANZHEIT UND TEIL
Zu Beginn ist es wichtig zu klären, was man als System betrachtet, und das ist immer eine Entscheidung, denn ein System ist nicht etwas objektiv Gegebenes. Aus verschiedenen Perspektiven zieht man unterschiedliche Grenzen.

VERNETZTHEIT
Die Teile, aber auch ganze Systeme selbst, sind auf vielfältige Art und Weise untereinander verknüpft. Daraus entsteht Dynamik und Unbestimmtheit. Die Vernetzung der Elemente eines Systems (und die Kommunikation untereinander) bestimmt, wie es sich verhält.

OFFENHEIT
Vernetzung besteht nicht nur zwischen den Elementen eines Systems, sondern auch zur Umwelt. Die meisten Systeme „ernähren“ sich aus ihrer Umwelt und erschaffen sich dadurch laufend neu (Autopoiesis). Offenheit bewirkt auch, dass kein System völlig unabhängig ist: Es muss sich in seine Umwelt einfügen, um zu überleben.

KOMPLEXITÄT
Soziale Systeme sind nicht einfach kompliziert, zum Beispiel wie Maschinen. Durch kybernetische Wechselwirkungen einerseits und soziale Interaktionen andererseits entstehen Dynamik und Nicht-Vorhersagbarkeit. Das begrenzt, was wir wissen und steuert, wie wir eingreifen können.

ORDNUNG
Trotz hoher Komplexität gibt es Ordnung: Durch Regeln entstehen Verhaltensmuster. Sie sind aber häufig nicht das Resultat bewusster Gestaltung, sondern das Ergebnis von Wechselwirkungen. Wer versteht, wie ein System funktioniert, hat Anhaltspunkte, wie es beeinflusst werden kann.

LENKUNG
Auf der Ordnung in Systemen beruht ihre Fähigkeit, sich unter Kontrolle zu halten, bestimmte Zustände andern vorzuziehen. Systeme sind also gelenkt: Lenkungsmechanismen können im dynamischen System mit der Zeit von selbst entstehen, aber auch von Menschen bewusst geschaffen werden.

ENTWICKLUNG
Soziale Systeme sind zweck-und zielgerichtet. Zweck und Ziele können sich aber auch ändern. Soziale Systeme weisen eine wertbehaftete, sinngebende Dimension auf und haben die Fähigkeit, sich in Frage zu stellen, indem sie ihre eigenen Ziele, Strukturen und Verhaltensweisen beurteilen und verändern. Sie können lernen und ihre Lernfähigkeit verbessern.


Konsequenzen für die Organisationsberatung und Führung

  • „Vernetztes Denken“ ist ein Instrumentarium, um Handlungs- und Verhaltenssysteme darzustellen und berechenbarer zu machen
  • „Vernetztes Denken“ ist auch eine teamorientierte Methode zur Schwachstellenanalyse, Problemlösung, Entscheidungsvorbereitung und Projektplanung
  • Ein Projektteam bekommt einen Eindruck, wie Eingriffe in ein System wirken. Wirkungspfade und -netze lassen sich nachvollziehen, Nebenwirkungen werden sichtbar.
  • „Vernetztes Denken“ ist ein gruppendynamisches Führungsinstrument und ein kommunikatives Verfahren:
    1. wichtige Begriffe, die im betrieblichen Alltag gebraucht werden, werden gemeinsam geklärt
    2. Vorurteile, mit denen über die jeweiligen Perspektiven der Betrieb angesehen wurde, werden kritisch hinterfragt und geklärt
    3. Die Führungskraft versetzt sich in andere Perspektiven hinein. Dies alles erleichtert Führung und Kommunikation, hilft Fehler vermeiden, nimmt Sand aus dem Getriebe und unterstützt eine Ausrichtung von Strategien auf Grund von nachvollziehbaren Einsichten (statt diffuser Meinungen)

„Vernetztes Denken“ lässt sich einsetzen…

  • als Planungs- und Steuerungsinstrument im betrieblichen Bereich, zur Projektplanung, Unfalluntersuchung, Projektmanagement, trouble shooting.
  • als Analyseinstrument, um Klarheit über bestimmte Problemlagen zu erreichen
  • als Steuerungs- und Planungsmethode
  • als Kommunikationsinstrument, zur Meinungs- und Willensbildung in Führungs- und Projektteams

Der nächste Artikel:

Der nächste Beitrag zur vierzigjährigen Entwicklungsgeschichte des Systemischen Arbeitens führt uns ins Reich der „Vordenker des Change Managements“. Alex Gottein und Dr. Georg Wolfgang geben uns einen Überblick über die Arbeiten von Dörner, Kotter, Senge und Peter Drucker.

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Lorenz S. Forchhammer

Jahrgang 1957, Sozialwissenschaftler mit zahlreichen Weiterbildungen in Systemischer Beratung und Projektmethoden. Seit 1985 bei ComTeam. Nach 15 Jahren Vorstandstätigkeit wechselte ich meinen Schwerpunkt auf „Forschung und Lehre“ und bin heute als Strategieberater, Hochschuldozent, Change-Consultant, Coach und Führungskräftetrainer unterwegs. Zahlreiche Veränderungsprojekte und Programme für Executives haben meine Arbeitsweise in den letzten Jahren geprägt. Ich verfasse Bücher und Fachartikel zu „Veränderungsprozessen“, zu „Entscheiden in komplexen Situationen“ und zu „Unternehmenskultur“. Ich arbeite auf Deutsch und Englisch, genieße meine große Familie, koche leidenschaftlich mit großem Geschirr und lese mit großem Vergnügen englische Thriller.

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