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Dass wir heute wie selbstverständlich von einem System der Nerven sprechen, also einzelne diskrete zelluläre Baueinheiten (die Nervenzellen oder auch Neuronen genannt), die in ihrer Vernetzung die Verarbeitung von Informationen ermöglichen, ist eine Erkenntnis, die erst in der ersten Hälfte des 20 Jh. als unstrittig anerkannt wurde. Um diese Erkenntnis wurde mehr als 100 Jahre lang vehement gerungen.

PET-image, Quelle: Wikipedia

PET-image, Quelle: Wikipedia

Getragen war und ist die Erforschung des Nervensystems durch die unterschiedliche Möglichkeit der Darstellung und der daraus resultierenden Interpretation. Die von Camilo Golgi 1879 beschriebene Methode, Nervenzellen anzufärben und dann zu mikroskopieren, und wie wir heute wissen, mehr oder minder zufällig einzelne Zellen und Zellverbände in ihrer gesamten Form darzustellen, war neben anderen Färbemethoden ein Meilenstein in der Betrachtung des Nervensystems.

Die daraus entstandenen ästhetischen Zeichnungen dieser Netzwerke, ob nun von menschlichen Gehirnarealen oder von Fischen (über deren Rückenmark gerade Sigmund Freud promovierte), waren jedoch unterschiedlich zu betrachten. Es lag nun ein Fasernetzwerk vor, das kontinuierlich verbunden war, wie es von Hans Held postuliert worden war, oder wie es Ramón y Cajal (Nobelpreis 1906) gefordert hatte: Diskontinuierliche zelluläre Einheiten, die Synapsen an den Annäherungspunkten der Nervenzellen besitzen. Eine eingehende Betrachtung der Thematik ist zu finden in „Das Gehirn – Organ der Seele?“, erschienen im Akademie Verlag 1993. Cajal sollte also recht behalten, und das Instrumentarium zur Erforschung des Nervensystems wurde im 20. Jahrhundert deutlich erweitert. Elektrophysiologie, Biochemie, Genetik und deutlich verbesserte Methoden zur Darstellung des Nervensystems kamen ins Spiel und der „Kampf“ um die Erklärungshoheit unseres Verhaltens war neu eröffnet.

Mit der Verfeinerung von Detailwissen um die molekularen und strukturellen Gegebenheiten des Gehirns, schien alles materialisierbar zu sein. So im Konzept des „Grandmother Neuron“, das 1969 von Jerry Lettvin beschrieben wurde und das bis heute diskutiert wird. Die Frage war und ist, ob es einzelne Zellen sind, die für das Erkennen und das menschliche Gedächtnis zuständig sind, oder ob einzelne Moleküle dazu dienen, konkrete Informationen zu speichern. (McConnell 1962).

Neben diesen Arbeiten entstehen auch Ansätze die,  das „System im Nervennetzwerk“ in den Fokus nehmen. Das Konzept der (nach dem Psychologen Donald Hebb benannten) „Hebbschen Synapse“ und den daraus abgeleiteten „Lernregeln“ und dem Phänomen der „Bahnung“ sind 1949 der Startpunkt einer neuropsychologischen Betrachtung des Gehirns. Die Lernregeln besagen, dass häufig verwendete Synapsen leichter aktivierbar sind, und Bahnung bedeutet, dass Nervenzellen, die gemeinsam aktiv sind, ihre gemeinsamen Strukturen festigen. Diese Arbeiten legten die Grundlage für die Gedächtnisforschung und die modernen Lerntheorien, auf die aktuelle Publikationen z. B. von Manfred Spitzer, Gerald Hüther oder John Medina (http://www.brainrules.net) aufbauen.

Eine weitere Neuerung war auch der von McCarthy 1956 geprägte Begriff der „künstlichen Intelligenz (KI)“ und künstlicher neuronaler Netzwerke, und der daraus entstehenden Diskussion. Gerade diese künstliche Intelligenz ist es, die bei den heutigen Entwicklungen von Google & Co wieder in den Fokus gelangt. Sogenannte „selbst lernende Systeme“ sind in einem „Netz“, das sich selbst verbessern und autonom agieren kann – ohne dass der Mensch eingreift. Eine Entwicklung, die die menschliche Intelligenz kritisch im Auge behalten sollte.


Zentrale Ansätze

 Radikaler Konstruktivismus
Baum der Erkenntnis

Maturana/ Varela; Der Baum der Erkenntnis

1984 erhielt der Radikale Konstruktivismus durch die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela und die von ihnen entwickelte Theorie zur Selbstorganisation (Autopoiesis, 1984) breite Beachtung. „Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen“ ist ein Teil des Untertitels ihres Buches „Der Baum der Erkenntnis„, mit dem sie Systemtheorien für viele verschiedene Fachrichtungen über die Biologie hinaus neu denken und erweitern. Das hat in intensiver Weise auch in der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann seinen Niederschlag gefunden.

 

Digitale bildgebende Verfahren

MRI Abbildung

White Matter Connections, obtained with MRI, Quelle: Wikimedia commons

Die neurowissenschaftliche Forschung wird – wie auch andere Naturwissenschaften – mit Beginn des 21. Jahrhunderts durch eine derartige Publikationsflut und Hyperspezialisierung angetrieben, dass jeweils nur noch kleinen „eingeweihten“ Kreisen die Beurteilung der jeweiligen Experimente und Resultate ermöglicht. Damit einhergehend wurden auch „wissenschaftliche Belege“ für vielerlei Aussagen möglich – und vermeintlich verwendbar. Wie im 19. Jahrhundert dominiert wieder die Macht der Bilder.Die digitalen bildgebenden Verfahren (MRT, DTI, fMRT, PET, NIRS, EEG, MEG), mit denen Gehirnaktivitäten und Gehirnanatomie kombiniert darstellbar sind, ermöglichen unterschiedliche Rückschlüsse darauf, „wo genau“ im Gehirn etwas geschieht, wenn wir denken, entscheiden und fühlen. Ein guter Überblick dazu ist zu finden in: Ein Wegweiser durch unser Oberstübchen: Rita Carter – Gehirn und Geist – Spektrum Verlag 2012).Und auch neueste Ansätze zur Charakterisierung aller Verbindungen von Nervenzellen zueinander innerhalb eines Lebewesens erzeugt wieder Bilder: Die zur Zeit mit immensen Millionenbeträgen geförderte Konnektom –Forschung. Sie mag dem „System Gehirn“ eine neue Richtung der Interpretation geben – möglicherweise weg von der klaren Lokalisierung von Verhalten hin zu Gehirnarealen, und hin zu einem erweiterten Netzwerkverständnis.

Neuronale Plastizität

DTI Sagittal Fibers, Quelle: Wikimedia commons

Wieder sind es die Bilder, die faszinieren und gedeutet werden wollen, auf die der Begriff der „neuronalen Plastizität“ angewandt wird. Es bedeutet, dass Nervenzellen, und damit das System Gehirn, sich bis ins hohe Alter verändern und entwickeln kann, und zwar auf Basis von gemachten Erfahrungen.
Für die Neurobiologie sind es im deutschsprachigen Raum Ernst Florey, Olaf Breidbach, Detlef Linke, Gerhard Roth, Gerald Hüther und Manfred Spitzer, die das neue Wissen zusammenfassen,  interpretieren, und zu unterschiedlichen Themen verwendbar und diskutierbar machen; damit wir immer wieder im Bilde sind, und der Diskurs weitergehen kann.Bleibt festzuhalten, dass bei aller Anstrengung und Zugewinn an Daten und Erkenntnissen, wir weiterhin mit unterschiedlichen Theorien über das Funktionieren des Gehirns werden leben müssen. Auch wenn wir schon zu vielen Wissensbereichen,  wie dem Lernen, der Entscheidungsfindung, oder der Bedeutung von Emotionen, fundierte Hilfen vorliegen haben. Viele dieser Erkenntnisse bedürfen noch einer tieferen Erforschung und Einordnung, um wirksam werden zu können. Der in diesem Jahr verstorbene Neurowissenschaftler, Philosoph und Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach schreibt in seinem Buch „Expedition ins Innere des Kopfes“ :„Die heutige Neurowissenschaft sagt nichts über die Seele aus; sie ist damit aber nicht notwendig seelenlos, sie ist – zunächst einmal – seelenblind“.


Der nächste Artikel: Im nächsten Beitrag zur vierzigjährigen Entwicklungsgeschichte des Systemischen Denkens und Arbeitens schreibt Peter Böhm über „Entscheidungen als Wissenschaft“.

Dr. Rainer Wegerhoff

Ich arbeite mit Herz und Freude in den Bereichen Training und Beratung, um den Weg der Erfahrungen und Informationen hin zu neuen Kompetenzen und Lösungen zu begleiten. Hilfreich für die Arbeit in unserem Team und mit Kunden sind langjährige Führungserfahrungen in einem globalen Technologieunternehmen sowie mein neurobiologisch-wissenschaftlicher Hintergrund. Meine kundenzentrierte Arbeitsweise konnte ich durch die Verantwortung für Service- und Support-Abteilungen ausbauen. Die mehr als 10 jährige Leitung einer internationalen Weiterbildungsakademie sowie Weiterbildungen in Psychobiologie, Prozess- und Wissensmanagement erlauben mir heute, auf moderne Vorgehensweisen zur Wissensvermittlung und der Beratung zurückzugreifen. Als Leiter des Geschäftsbereich Inhouse achte ich darauf, dass unsere Trainings passgenau zur Kundensituationen sind. So wird eine positiv nachhaltige Wirkung ermöglicht. In meiner Freizeit genieße ich zusammen mit meiner Familie und Freunden, die naturbelassene Flecken meiner Umgebung und liebe Musik, ob aktiv machend oder hinhörend.

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